Entwurf 1:  "Modelle und Modellbildung"

(Sachanalyse, Didaktische Analyse, Ziele, Stundenverlauf, Unterrichtsmaterial)

 

Sachanalyse [zurück]

Vom Begriff „Modell“ ausgehend ist zunächst festzustellen, dass die primäre Bedeutung des Wortes eine etwas andere als die in der Informatik übliche ist. Ein Modell ist im ursprünglichen Wortsinne (aus der Fachsprache der Bildenden Künste des 18. Jahrhunderts) etwas, das als Vorlage für die Nachahmung dient (Gegenstand, Person, Fotomodell).

 

Diese Bedeutung wird heute stark von dem in den Wissenschaften gebräuchlichen Modellbegriff überlagert. Dort ist ein Modell – genau umgekehrt – eine Abbildung eines realen oder imaginären Vorbilds. Dabei werden nur für bestimmte Fragestellungen wichtige Teilaspekte der Realität (oder Imagination) in die Modellbildung miteinbezogen. Sehr verbreitet sind dreidimensionale Modelle von Bauwerken und Fahrzeugen (Architekturmodelle, Modellbau als Hobby).

 

Ein Modell kann aber auch ein Satz von mathematischen Gleichungen sein. Wenn dieser Satz so komplex ist, dass er nur mit numerischen Methoden ausgewertet werden kann, dann überlässt man diese Auswertung häufig dem Computer und spricht von einem Computermodell.

 

Die Vorgehensweise bei der wissenschaftlichen Modellierung gliedert sich in drei Schritte. Die Formulierung ist dabei die erste Phase der Erstellung des Modells. Hier entsteht die eigentliche Idee zur Beschreibung des Teilsystems, dabei findet eine Reduktion der Komplexität statt. Wichtig sind nur die für die Untersuchung relevanten Parameter. Die anschließende Phase dient der Untersuchung des Modells. Dabei wird es meist in ein physikalisches oder mathematisches Modell überführt. Mit diesem Modell können dann (eventuell unter Zuhilfenahme einer Computersimulation) Experimente gemacht werden. Von Interesse sind zum Beispiel Vorhersagemodelle von komplexen Systemen oder Flugmodelle. Die Ergebnisse müssen am Ende validiert werden (Validierung). D.h. ein oder mehrere vom Modell berechnete Parameter werden mit Messungen aus der Realität verglichen. Stimmen diese Werte überein, so geht man davon aus, dass das Modell zumindest in dem untersuchten Teilaspekt der Realität entspricht.

 

Der Entwurf von Software mit objektorientierten Modellierungsmethoden stellt einen Spezialfall der Modellbildung dar. Bei der objektorientierten Modellierung handelt es sich um eine spezielle Vorgehensweise bei der Erstellung eines solchen Modells. Dabei wird nicht zuerst ein Satz von mathematischen Gleichungen aufgestellt, sondern der Realitätsausschnitt wird in Objekte zerlegt, deren Zustand durch Eigenschaften (Attribute) beschrieben wird. Außerdem können Objekte  bestimmte Fähigkeiten (Methoden) haben, die eine Zustandsänderung bewirken und/oder zur Kommunikation mit anderen Objekten dienen. Diese Objekte werden durch Klassen beschrieben, so dass mehrere, sich nur in ihrem Zustand voneinander unterscheidende Objekte, durch die selbe Klassendefinition beschrieben werden. Diese Art der Modellierung ist stark an der sprachlichen Beschreibung von Systemen orientiert.

 

Das Modell besteht dann aus einer Menge von Objekten, die miteinander kommunizieren. Diese Art von Modell besteht aus unabhängigen Modulen (Objekten) und ist nicht nur von der Funktionsweise, sondern auch von der Struktur her der Realität (so wie sie vom Menschen wahrgenommen wird) ähnlich. Teile dieser Modelle können in anderen Modellen wiederverwendet werden.

 

Didaktische Analyse [zurück]

Da der Begriff Modell nicht nur in der Informatik, sondern auch in anderen Bereich (die durchaus zur Lebenswelt der Schüler gehören) eine Bedeutung hat, habe ich mich dafür entschieden zu Beginn mit den Schülern eine gemeinsame Definition zu erarbeiten. Dabei soll jeder Schüler ersteinmal einen eigenen Vorschlag auf einer Karteikarte formulieren. Diesen Schritt halte ich für wichtig, damit gleich am Anfang jeder Schüler zum Mitdenken angeregt wird. Außerdem bietet sie den nicht so sprachschnellen Schülern die Möglichkeit eine Antwort genau vorzuformulieren. Besonders wichtig bei der Definition scheint mir die Tatsache, dass ein Modell nicht irgendein Ausschnitt aus der Realität ist, sondern dass eine bestimmte Zielsetzung diesen Ausschnitt bestimmt.

 

Für den weiteren Verlauf der Stunde habe ich vorgesehen, die Definition auf Beispielmodelle anzuwenden (Analyse) und anhand dieser Beispielmodelle weitere Fragen zu klären. Die dabei immer wieder gestellten Fragen nach der Übereinstimmung von Modelleigenschaften mit der Realität stellen gleichzeitig eine wichtige Übung für die spätere objektorientierte Modellierung dar. Die Ergebnisse dieser Analysen werden zur Ergebnisssicherung in einer Tabelle gesammelt und von den Schülern abgeschrieben. Sie bietet den Schülern eine anschauliche Ergänzung zur Definition.

 

Die gestellte Hausaufgabe führt einen kleinen Schritt weiter und kann in der folgenden Stunde als Einstieg beim Übergang zur objektorientierten Modellierung verwendet werden.

 

Ziele [zurück]

Die Schüler sollen den Begriff Modell als einen Ausschnitt aus der Realität erklären können, der auf  bestimmte Merkmale reduziert ist, die für eine bestimmte Fragestellung wichtig sind.

 

Zusätzlich sollen sie in der Lage sein, gegebene Modelle auf ihre Reduziertheit hin zu untersuchen, d.h. im Modell fehlende Merkmale des realen Systems zu benennen.

 

Weiterhin sollen sie aus einfachen Bespielmodellen durch die enthaltenen Merkmale auf eine mögliche Fragestellung schließen können.

 

Die Schüler sollen Vorteile und Nachteile der Modellbildung kennen und abschätzen können.

 

 

Stundenverlauf [zurück]

Dauer Phasengliederung Sozialform L-S-Aktivität Medien

5'

Vorbereitung

L Tafel wischen Beamer einschalten, Lehrerrechner hochfahren

Lehrerrechner, Beamer, Tafel

1'

Stundenbeginn

 

 

 

9'

Begrüßung, Organisatorisches, Motivation

LV

L begrüßt die Schüler, klärt organisatoriche Frage, stellt die Planung für das kommende Halbjahr vor

L stellt das Stundenthema vor,  schreibt die Frage "Was ist ein Modell?" an die Tafel und gibt einen Arbeitsauftrag

Beamer, Lehrerrechner

3'

Erarbeitungsphase I

 

EA

S Die Schüler schreiben (jeder für sich) ihre Antwort auf die o.g. Frage in einem Satz auf eine Karteikarte

Karteikarten

10'

UG

L bittet einzelne Schüler, ihre Antwort vorzulesen

S lesen ihre Antworten vor

L notiert Stichpunkte an der Tafel

S/L erarbeiten eine Definition von "Modell" (siehe Tafelbild 1a)

L schreibt die Definition an die Tafel und teilt den Schülern mit, dass sie am Ende der Stunde Zeit zum Abschreiben haben

Tafel, Karteikarten

14'

Erarbeitungsphase II, Wiederholungsphase

UG

L schreibt einen weiteren Satz an die Tafel (siehe Tafelbild 1b)

L zeigt Bilder zu Beispielmodellen und fordert die Schüler auf, zu jedem Beispiel drei Fragen zu beantworten:

1. Welche Eigenschaften haben Modell und Realität gemeinsam?

2. Welche Eigenschaften fehlen dem Modell?

3. Mit welcher Zielvorstellung wurde das Modell entworfen?

S beantworten die Fragen

L notiert die Antworten stichpunktartig in eine Tabelle (Tafelbild 2)

Lehrerrechner, Beamer, Tafel

1'

LV

L erklärt die Aufgabenstellung für die Hausaufgabe (den Text auf dem Arbeitsbogen lesen und die zwei Fragen dazu schriftlich beantworten)

Arbeitsbogen

7'

Ergebnisssicherung

EA

S schreiben das entstandene Tafelbild ab

Tafel

 

 

Unterrichtsmaterial [zurück]

Tafelbild 1a [zurück]

 

Was ist ein Modell?

-ein Abbild

-eine Verkleinerung

-dient der Veranschaulichung

- ...

 

 

Ein Modell ist ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit, der aufgrund einer bestimmten Zielsetzung gewählt wird.

 

 

 

Tafelbild 1b [zurück]

 

Was ist ein Modell?

-ein Abbild

-eine Verkleinerung

-dient der Veranschaulichung

- ...

 

 

Ein Modell ist ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit, der aufgrund einer bestimmten Zielsetzung gewählt wird.

 

Bei der Modellbildung kommt es auf die richtige Wahl dieses Ausschnitts an.

 

 

 

Tafelbild 2 [zurück]

Modell

gemeinsame Eigenschaften von Modell und Realität

Eigenschaften, die dem Modell fehlen

mögliche Zielsetzung bei der Entwicklung des Modells

Modelleisenbahn

-Größenverhältnisse

-Farbgebung

-Oberflächenstruktur

- ...

-Masseverhältnisse

-Statik

-Wetterbeständigkeit

- ...

ein unter allen visuellen Gesichtspunkten originalgetreues Abbild schaffen

Architekturmodell

-Größenverhältnisse

-Lichtdurchlässigkeit

-Schattenwurf

- ...

-Farbgebung

-Materialbeständigkeit

-Statik

- ...

ein unter Formästhetischen Gesichtspunkten originalgetreues Abbild Schaffen

Aufmerksamkeitsmodell

-Zusammenhang zwischen Ursache (Reiz) und Wirkung (Verhalten)

-Filterung einer großen Flut von Reizen

- ...

-Nervenstruktur des menschlichen Hirns

-Aufteilung in verschiedene Hirnregionen

- ...

Ein Erklärungsmodell für das menschliches Verhalten schaffen

Flugzeug im Windkanal

-Größenverhältnisse

-aerodynamische Eigenschaften

- ...

-Farbgebung

-Innenausstattung

-Antrieb

- ...

Ein Untersuchungsmodell für das aerodynamische Verhalten des Flugzeugs finden

Molekülmodell

-Bindungswinkel

-Verhältnis der Bindungslängen

- ...

-Mehrfachbindungen

-Molekülgewicht

- ...

Untersucnung der räumlichen Struktur eines Moleküls.

 

Beispielmodelle [zurück]


By Schönegg (Own work) [Public domain],
via Wikimedia Commons

By Norbert Schnitzler (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0],
via Wikimedia Commons

By OnkelDagobert (Own work) [CC-BY-SA-3.0 or GFDL],
via Wikimedia Commons

By NASA Ames Research Center [Public domain],
via Wikimedia Commons

By Chemitorium (Molekül 3D-Modell / Erstellt mit Chemitorium) [CC0],
via Wikimedia Commons

 

Arbeitsbogen (HA) [zurück]

Fragen:

  1. Was sind die Vorteile eines Verhaltensmodells mit dem Paniksituationen erforscht werden können?

  2. Welche Probleme treten bei der Erstellung eines solchen Modells auf?


V E R K E H R

Doppelgänger auf der Flucht

Menschenmengen in Bewegung sind kaum berechenbar und oft gefährlich. Forscher bauen deshalb Schiffe, Sportstadien und Pilgerstätten im Computer nach - bevölkert von Zehntausenden künstlicher Fußgänger, die im simulierten Katastrophenfall um ihr Leben laufen.


Erste Weltkonferenz der Fußgängerforscher, Universität Duisburg: Gut hundert Teilnehmer warten morgens schon fachsimpelnd vor dem Hörsaal. Allesamt Experten für die Rätsel des Gehens. Nicht leicht, hier unbefangen vorbeizuspazieren. Der eine wird insgeheim Schritte zählen, der andere extrapoliert schon den Kurs zur Eingangstür, und der Dritte berechnet die Ablenkungskraft der Keksteller, die im Foyer verteilt sind.

Diesem Fach entgeht niemand. Kaum steht der Mensch auf den Beinen, ist er Gegenstand der Fußgängerforschung. Dann fangen die Fragen an: Wo geht er hin und wo nicht? Warum meidet er die Ladenpassage in bester Lage? Warum bleibt er immer nur stehen, wo es eng ist, zum Beispiel gleich hinter der Rolltreppe? Und sollte er mal auf Kreuzfahrt gehen: Wo rennt er hin, wenn das Schiff einen Eisberg gerammt hat?

Erste Antworten auf diese Fragen trafen vorvergangene Woche in Duisburg ein: Forscher an der Universität Strathclyde in Glasgow arbeiten beispielsweise an einer Software zum Schiffeversenken. Die Simulation namens Evi ermittelt, wie schnell ein Havarist notfalls evakuiert werden kann.

Schiffsbauer können Computermodelle ihrer Kreuzfahrer zur Probe bevölkern mit Tausenden künstlicher Passagiere. Dann zetteln sie nach Belieben Verheerungen an: ein Feuerchen hier, einen Wassereinbruch da oder eine gewaltige Explosion im Maschinenraum, die das Schiff entzweireißt.

Kalten Blicks sehen die Forscher nun am Bildschirm zu, wie Männer, Frauen, Kinder zu den Rettungsbooten streben. Und wie sie kehrtmachen, wenn man ihnen den Fluchtweg abschneidet.

Es geht zu wie im Katastrophenfilm. Sogar die Rauchschwaden sind zu sehen, die den armen Tröpfen entgegenschlagen, und das Schwappen der ansteigenden Wasserfluten im Korridor.

Noch ehe das Schiff gebaut ist, können seine Konstrukteure jedes Szenario durchspielen, Engstellen und kritische Passagen beäugen und stoppen, wer wie lange zum Rettungsboot braucht.

Bislang war die Fußgängerforschung nicht bekannt für mitreißende Simulationen. Sie erschöpfte sich im Messen: Steigleistung auf Treppen, Schrittlänge nach Altersgruppen oder Durchschnittstempo nach Großstädten (hoch in Braunschweig, niedrig in Stuttgart). Dafür brauchte es keine Weltkonferenzen.

Die Lage änderte sich, als 1994 die Fähre "Estonia" in der Ostsee versank und 852Menschen starben. Seither arbeitet die zuständige International Maritime Organization an einem Regelwerk, das festlegt, wie Schiffe für den Notfall vorzusorgen haben.

Vorerst gilt als Faustregel: Binnen 60 Minuten sollten alle Passagiere in den Rettungsbooten sitzen. Wie schnell das wirklich geht, ist aber kaum zu berechnen. Bisher behalfen sich die Experten meist mit Flussmodellen aus der Hydraulik: Sie behandelten die Passagiere als eine Art Pampe, die es aus dem Schiff zu pumpen galt.

Im wirklichen Unglücksfall folgt jeder Fußgänger seinem Eigensinn. Die Leute hasten bei Alarm vielleicht erst in die Kabine, um die Rettungsweste zu holen; sie suchen ihre Kinder, rennen kopflos umher und verstopfen Durchgänge. Wer das alles kalkulieren will, muss es im Computer mit virtuellen Doppelgängern nachspielen.

"In zehn Jahren werden solche Simulationen Pflicht sein", weissagt der Duisburger Verkehrsforscher Michael Schreckenberg, der die Konferenz ausgerichtet hat. "Die Kreuzfahrtschiffe werden immer größer, die Stadien und Flughäfen ebenfalls. Da brauchen wir genaue Planspiele für den Notfall."

Schreckenberg gilt als Pionier der Verkehrssimulation mit selbständigen Akteuren. Mit seinem Kollegen Kai Nagel hat er einst im Computer eine simple Urwelt aus Gitterzellen geschaffen, die von kleinen Unterprogrammen, genannt Agenten, besiedelt ist. Jeder Agent strebt in der Gitterwelt Geschäften nach, die ihm nur ungefähr vorgegeben sind. Er hüpft von Zelle zu Zelle im vorbestimmten Takt, weicht anderen Agenten aus und entscheidet an Weggabelungen je nach Lage, wohin er sich wendet. Ein Zufallsgenerator lässt ihn hier und da etwas launisch erscheinen.

Solche Simulationen sind primitiv, aber praktisch: Sie verkraften es auch, wenn man riesige Mengen von Agenten aufeinander loslässt.

Der Fußgängerforscher Hani Mahmassani baute in den USA ein Computermodell der heiligen Stätten von Mekka und stopfte 100 000 Agenten als künstliche Wallfahrer hinein. Auf Knopfdruck drängeln sich diese nun wie gute Moslems bis auf Steinwurfweite an die berühmten Teufelssäulen heran, die jedermann nach altem Brauch einmal steinigen sollte.

Mahmassani erprobt in seinem Modell verschiedene Barrieren und Zugangsschleusen. Es gilt, das Geschehen am Bildschirm so zu steuern, dass es glimpflich ausgeht. Denn im wirklichen Leben kommen bei dem Ritual immer wieder Menschen zu Tode; erst vor wenigen Wochen sind dort im Gewoge 35 Pilger zerquetscht worden.

Noch hat die Fußgängerforschung einen starken Hang zur Katastrophe. Aber die ersten Pioniere erobern auch schon den Alltag: Die Londoner Firma Space Syntax entwickelt Agenten, die durch Kaufhausmodelle schweifen. Sie haben die Einkaufszettel realer Kunden dabei, und sie rasten nicht eher, bis sie alles abgeklappert haben.

Unterwegs lassen die künstlichen Kunden sich, falls gewünscht, durchaus von attraktiven Verkaufsständen ablenken. Allzu dichtes Gedränge ist ihnen allerdings zuwider. Händler können daraus ersehen, wie sie ihre Ware verteilen müssen, damit die Kundschaft an möglichst vielen Kaufreizen vorbeischlendert.

Für fast alle Simulationen gilt: Sind sie einmal da, wecken sie in ihren Schöpfern den Tüfteltrieb. Gerade Unglücksforscher lieben es, vorsorglich immer neue Details einzubauen. Kein Mensch handelt wie der andere. Folglich muss auch die Software Dünne und Dicke unterscheiden, Alte und Junge. Es geht um Sehschärfe, Reaktionszeit und Raumverdrängung. In Rechnung gestellt wird auch eventuelle Kopflosigkeit vor dem Notausgang sowie die Wirkung von Rauch und Giftgas in Abhängigkeit vom Lungenvolumen.

Am genauesten nimmt es der britische Evakuierungsfachmann Ed Galea. Seine Simulation Exodus kam beim Umbau des Düsseldorfer Flughafens nach dem Großbrand von 1996 zum Einsatz. Galeas künstlichen Passagieren schwindet sogar bei dichtem Rauch die Sicht: Sie tappen an der Wand entlang, bis die Schwaden sich wieder lichten.

Diese Detailwut ist manchen Kollegen ein Gräuel. Gelernte Physiker wie Michael Schreckenberg oder der Dresdener Verkehrsforscher Dirk Helbing halten es eher mit einfachen Modellen, die leicht zu handhaben sind. Damit hat die Fußgängerforschung, so jung sie ist, bereits ihren ersten Methodenstreit. Die Frage ist: Wie viel Eigenleben braucht ein guter Agent?

Helbing hält noch die simpelsten Agenten für übertrieben komplex. Wieso sollten sie selbständig handeln können? Blickt Helbing auf eine belebte Fußgängerzone, so sieht er weder Eigensinn noch gar intelligentes Verhalten. Er sieht: Strömungen, Rinnsale und an Engstellen Pfropfenbildung. Nichts, was man nicht erklären könnte mit dem Verhalten von Flüssigkeiten, Gasen und Granulaten.

"Unsere Intelligenz", sagt Helbing, "brauchen wir nicht fürs Herumlaufen." Mobile Menschenmengen sind für ihn hinlänglich beschrieben als "aktive Vielteilchensysteme".

In Helbings Simulationen walten folglich nur Gleichungen der Physik. Damit kann er in Korridoren durchaus lebensechtes Gewimmel von Teilchen erzeugen, die in Panik hinausdrängen. Und siehe da, es zeigt sich, dass mehr Teilchen durch den Notausgang schlüpfen, wenn davor in einigem Abstand eine Säule steht. Sie staut einen Teil der Nachdrängenden zurück, lindert den Druck auf die Engstelle, und die Fliehenden verkeilen sich nicht so leicht.

Hier die Physiker, dort die Ultrarealisten - "und dazwischen eine tiefe Kluft", resümiert Fußgängerforscher Schreckenberg. In Duisburg schieden die Fraktionen unversöhnt. Schon darum muss es, wie die Konferenz am Ende beschloss, in zwei Jahren eine Folgekonferenz geben.

MANFRED DWORSCHAK

Quelle: DER SPIEGEL 16/2001 (25.4.2001)


30. April 2004   Clemens Wagner